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Interview mit Dr. Norbert Stapper

Dem Klimawandel auf der Spur: Monitoring mit Flechten

Bild: Christoph Sager

Sie sind das Ergebnis eines hochspezialisierten Zusammenspiels von Pilzen und Algen bzw. Cyanobakterien. Sie reagieren sensibel auf Veränderungen ihrer Umwelt und werden heute zunehmend zum Monitoring des Klimas eingesetzt. Die Rede ist von Flechten. Die Details kennt Dr. Norbert Stapper. Er führt im Rahmen des städtischen Klimafolgenmonitorings für die Stadt Düsseldorf Flechtenkartierungen durch.

Was ist das Besondere an Flechten?

Norbert Stapper: Flechten reagieren artspezifisch abgestuft auf chemische oder physikalische Veränderungen ihrer Umgebung. Das macht sie zu Bewertung von Klimaveränderungen und Belastung durch Luftschadstoffe so interessant.

Während der saure Regen für die meisten Arten sehr giftig war, können einige Flechten düngende Stoffe, deren Werte in der Luft nach wie vor sehr hoch sind, bis zu einem gewissen Grad verwerten oder entgiften. Viele Arten können das jedoch nicht, weshalb Luftdüngung die Artenvielfalt dennoch stark herabsetzt.

Im Gegensatz dazu wirken Klimaveränderungen nicht chemisch, sondern sie verändern die physikalischen Rahmenbedingungen, unter denen die Flechten Photosynthese betreiben. Wobei es die Algenpartner in dieser „Wohngemeinschaft“ sind, die mit Sonnenenergie für sich selbst und für den vergesellschafteten Pilz Kohlendioxid in Zucker und ähnliche Produkte überführen. Und jetzt kommen sowohl der globale Klimawandel als auch lokal verursachte Klimaveränderungen ins Spiel.

Es wird wärmer…

Norbert Stapper: Betrachten wir eine Flechte an einem Alleebaum. Als wechselfeuchter Organismus muss sie feucht sein, um Zucker herstellen zu können. Zudem darf es für eine effiziente Photosynthese nicht zu warm sein, weil die Flechte sonst schlimmstenfalls Schaden nimmt. Sie kann Wasser direkt aus morgendlich feuchter Luft oder aus Tauniederschlag aufnehmen und in aufgequollenem Zustand das frühe Tageslicht zur Photosynthese nutzen. Steigt die Sonne höher und wird es wärmer, muss sie die Feuchte schnell wieder loswerden, um getrocknet lange Zeit weiterleben zu können. Ist die Luftfeuchte zu gering, dann tut sich die Flechte schwer. Das ist der Fall, wenn aus dem Boden nur wenig Wasser verdunstet, weil er zu ausgetrocknet oder die Oberfläche versiegelt ist, oder weil umgebende Bauwerke nachts warm sind und so die relative Luftfeuchte niedrig halten. Daher leben in der Innenstadt auch weniger bzw. andere Arten als in den Vororten.

Welche Auswirkung hat diese Entwicklung auf die Arten in der Stadt?

Norbert Stapper: Wir beobachten eine Verschiebung zu mehr trockenheits- und wärmeresistenten Arten, weil die Luftfeuchte, genauer die Humidität, sinkt. Zudem werden auch die Nächte in den Städten immer wärmer, da die Gebäude tagsüber noch mehr Wärme speichern. Im Gegensatz zu uns, leben Flechten vornehmlich im Winter in ihrem Temperaturoptimum.

Das heißt, je milder unsere Winter infolge des Klimawandels werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich Arten aus wärmeren Gefilden auch bei uns etablieren. Genau diesen Umstand macht sich das Klimafolgenmonitoring zunutze. Unter standardisierten Bedingungen untersuchen wir nämlich die Häufigkeit bestimmter Zeigerarten, die sich derzeit von Süden und Südwesten her nach Deutschland hinein ausbreiten. Im Gegensatz dazu werden boreale, also „nördliche“ Flechten seltener. Bereits Ende der 1990er Jahre wurde erstmals eine Wirkung des Klimawandels auf Flechten in den Niederlanden nachgewiesen.

Wie genau läuft die Erfassung von Flechten für das Klimafolgenmonitoring ab?

Norbert Stapper: Da sich Flechten an Baumrinde besonders gut reproduzierbar erfassen lassen, untersuchen wir den Bewuchs am Stamm ausgewählter Trägerbäume. Die Kartierung erfolgt nach Richtlinie VDI 3957 Blatt 20 „Kartierung von Flechten zur Ermittlung der Wirkung von lokalen Klimaveränderungen“. Dabei werden alle an diesen „Standardbäumen“ vorkommenden Flechten erfasst, wenngleich der Fokus auf den 43 in der Richtlinie aufgeführten Arten liegt. Diese Arten zeichnen sich dadurch aus, dass sie gegenwärtig ihr Areal nach Deutschland hinein ausdehnen, wobei sie selbst in den wärmeren Gebieten Deutschlands vor dem Jahr 2000 selten oder noch unbekannt waren und, ganz wichtig, nicht durch andere Einflüsse, wie erhöhte Nährstoffeinträge, begünstigt werden. Wir nennen sie daher Klimawandelzeiger. Als Messwert zur Beurteilung der Wirkungen lokaler Klimaveränderungen wird der Klimawandelzeiger-Index (KWI) ermittelt. Er entspricht der mittleren Anzahl der Klimawandelzeiger pro untersuchtem Baum zu einem bestimmten Zeitpunkt im untersuchten Gebiet.

Die Sternenhimmelflechte (Punctelia borreri), ein Klimawandelzeiger. 

Das Foto zeigt die Art im feuchten Zustand, wenn die unter der Oberfläche befindlichen Algen grün durchschimmern. Trocken ist sie grau-blau. Ihren deutschen Namen erhielt sie wegen der vielen kleinen, weißen Punkte (Pseudocyphellen) auf ihrer Oberfläche. Diese Flechte war früher in Deutschland extrem selten und breitet sich rasch aus. In Düsseldorf wurde sie 2002 zum ersten Mal gefunden, doch aktuell besiedelt sie dort schon die Hälfte aller untersuchten Stationsbäume!

Beispiel Düsseldorf

In Düsseldorf können inzwischen über 32.000 Beobachtungen für zeitliche Vergleiche von 2003 bis 2021 herangezogen werden. Kumuliert über alle Untersuchungen seit 2003 wurden bisher rund 100 verschiedene Flechtenarten an den Messstationen registriert. Das sind sehr viele Flechtenarten für so kleine Teilgebiete einer Großstadt. Aber tatsächlich ist weniger die schiere Anzahl der Arten bedeutend als vielmehr die zeitliche Veränderung der Häufigkeit bestimmter Indikatorarten.

Oh ja! Im Raum Düsseldorf kommen heute Flechten vor, die vor rund 60 Jahren noch eher für West- und Südwest-Frankreich typisch waren. Je nachdem, ob man eine Station in der überwärmten City oder in einem kühleren, luftfeuchteren Vorort betrachtet, hat sich der Klimawandelzeiger-Index (KWI) seit 2003 verdoppelt bzw. fast verdreifacht. Dieser Trend ist statistisch hoch signifikant. Es erscheint im ersten Moment paradox, dass die submediterranen oder submediterran-subatlantischen Zeigerarten in der wärmeren Innenstadt weniger zahlreich sind. Doch man muss bedenken, dass sich diese Flechten bei uns am Rand ihres überhaupt erreichbaren Areals befinden und auch ihnen der Trockenstress und Immissionen in der Innenstadt erheblich zusetzen.

Welche Folgerungen ergeben sich aus der Flechtenkartierung für die Klimaanpassung?

Norbert Stapper: Das Klimafolgenmonitoring der Stadt Düsseldorf nutzt die Flechten als Monitoringorganismen für Klimaveränderungen. Gleichzeitig werden auch Wirkungen unterschiedlich stark versiegelter Gebiete erkennbar. Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass sich die Folgen der innerstädtischen Überwärmung, die auch für uns Menschen ungünstig ist, mit steigender Durchschnittstemperatur infolge des Klimawandels weiter verschärfen werden. Ein Monitoring mit Flechten kann genutzt werden, um Bemühungen seitens der Städte, Klimawandelfolgen zu mindern, zu überprüfen oder bestehende Defizite im Stadtgebiet zu identifizieren. Es gibt hierzu erste Pilotstudien, und der zuständige VDI-Richtlinienausschuss, dem ich auch angehöre, verfeinert gerade die dafür anwendbare Methodik.

Und wie lassen sich daraus Rückschlüsse auf Klimaveränderungen ziehen?

Norbert Stapper: Eine einmalige Kartierung erfasst nur den Status quo. Auch wenn es reizvoll erscheint, verschiedene Gebiete zur gleichen Zeit zu vergleichen, sollte man dies aufgrund unterschiedlicher lokaler Verhältnisse unterlassen. Erst Wiederholungsuntersuchungen im gleichen Gebiet gestatten, Veränderungen der Natur zu dokumentieren. Das standardisierte Vorgehen gemäß VDI 3957 Blatt 20 stellt Vergleichbarkeit sicher.

Interview: Ruth Heesen

Ansprechpartnerin im VDI:
Ruth Heesen
KRdL-Fachbereich Umweltqualität
Telefon: +49 211 6214-360
E-Mail-Adresse: heesen@vdi.de

 

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