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Künstliche Intelligenz

Konkurrenz für den Halbgott in Weiß?

Bild: Gorodenkoff/ Shutterstock.com

KI ist in aller Munde und auch im Gesundheitswesen und der Medizintechnik gibt es immer neue Anwendungsfälle. Aber was heißt das? Werden wir zukünftig von der KI behandelt statt von einer Ärztin oder einem Arzt? Wie kann KI im angespannten Gesundheitssystem für Entlastung und zeitgleich für eine bessere Versorgung der Patienten sorgen?

Antworten zur Rolle der KI in der Medizintechnik hat Philipp Hagen vom VDI/VDE-IT. Er war Mitautor der VDI-Studie zur Digitalisierung in der Medizintechnik und weiß um Chancen und Risiken.

VDI: KI spielt in vielen Bereichen eine immer wichtigere Rolle, auf der anderen Seite heißt es Deutschland könne keine Digitalisierung. Wie sehen Sie das? Wo stehen wir im Bezug auf Digitalisierung in der Medizintechnik?

Philipp Hagen VDI/VDE-IT: Hier muss man Forschung und Praxis klar unterscheiden. Was den KI-Einsatz in der Praxis angeht, stehen wir in den meisten Bereichen noch ziemlich am Anfang. Aber was die Forschung angeht, ist Deutschland im Thema KI international relativ stark vertreten, überhaupt was die Forschung angeht. Wenn man beispielsweise die Anzahl der Publikationen betrachtet, dann ist Deutschland ungefähr auf Platz 5 weltweit - vor uns sind Länder wie China, USA, Indien, also riesige Länder. Gleiches gilt, wenn man sich den Bereich digitale Medizintechnik ansieht.

Und wenn man sich die Studienlage weltweit ansieht, hat KI zum Teil auch schon beeindruckende Ergebnisse erzielt. Es gibt bereits erste medizinische Bereiche, in denen die KI mit menschlichen Entscheidern gleichgezogen ist oder diese sogar übertroffen hat. Dies gibt es vor allem bei bildgebenden Verfahren. Dort konnte eine gut trainierte KI beispielsweise bei der Auswertung von CT-Bildern im Hinblick auf Lungenkrebs in Teilen zuverlässiger bewerten als ein Gremium zertifizierter Radiologen. Allerdings muss man sagen, dass solche Erfolge bisher in erster Linie unter Laborbedingungen gelingen. Es fehlt vielfach noch der Nachweis in der Praxis für den große, randomisierte klinische Studien benötigt werden. Hier müsste man dann auch überprüfen, wie schneiden Ärzte allein ab, wie nur die KI und wie steht es um eine Kombination von beiden. 

VDI: Sie sprachen gerade von bildgebenden Verfahren in der Radiologie. Aber was für Einsatzgebiete gibt es überhaupt für die KI im Gesundheitsbereich?

Philipp Hagen VDI/VDE-IT: Der größte und am weitesten entwickelte Schwerpunkt ist der Bereich Radiologie, also CT-Aufnahmen, MRT-Aufnahmen oder vergleichbare bildgebende Verfahren. Da geht es oft darum, Krebsdiagnosen zu unterstützen, das heißt die KI kann den Tumor erkennen, im Gewebe segmentieren und Pathologien erkennen. Das ist zurzeit der Löwenanteil der KI bei den zugelassenen Medizinprodukten.

Ein weiterer stark wachsender Bereich, wo es Bilder gibt, ist die Dermatologie. Sind das verdächtige Hautveränderungen, also ist das nur ein harmloses Muttermal oder vielleicht Hautkrebs? Aber auch in der Augenheilkunde wird viel mit Bildern gearbeitet. Hier fotografiert man ja oft den Augenhintergrund, also man schaut ins Auge hinein. Das ist aus vielen Gründen sehr interessant, weil man auf die Netzhaut schaut. Da sieht man neben feinsten Adern auch ein feinstes Nervennetz. Dieses Netz ist strenggenommen ein Teil des Gehirns. Das heißt, neben Augenerkrankungen gibt es auch die Hoffnung, dass die KI diese Erkenntnisse auswerten kann und neurologische Erkrankungen erkennen kann, vielleicht Vorstufen von Alzheimer, bevor Symptome auftreten und bemerkt werden.

VDI: Was für Entwicklungen sehen Sie neben den bildgebenden Verfahren?

Philipp Hagen VDI/VDE-IT: Das Interessante, worin auch große Hoffnung steckt, ist dass man die KI auch anders als nur zum „Bilderlesen“ einsetzen kann. Denn eine Behandlung rein nach Bildern wünschen wir ja auch vom Arzt nicht. Der soll sich ja auch uns als Patienten angucken und fragen, wie ist das Erscheinungsbild, gibt es Vorerkrankungen und so weiter. Man weiß, dass Bilder in vielen Fällen alleine nur begrenzte Aussagekraft haben, wenn es nicht gerade ein einfacher Knochenbruch ist. Aber zum Beispiel schon bei Rückenschmerzen helfen Bilder alleine oft nicht weiter. 

Hier ist eben auch eine Hoffnung im Bereich KI, dass sie über diese Eindimensionalität hinauswächst und zukünftig viele Daten analysiert. Also multimodal verschiedene Quellen auswertet und diese in die Entscheidungsfindung einfließen. Beispielsweise die Bewertung nach Bildern, aber unter Zuhilfenahme der elektronischen Patientenakte. Je allumfassender der Ansatz, umso besser die möglichen Ergebnisse, so jedenfalls die Hoffnung. 

So ist auch die Einbeziehung von Audiodateien denkbar, wenn beispielsweise erste Anzeichen von Demenz oder Parkinson dann vielleicht schon in der Stimme messbar werden. 

Denkbar wäre auch die Einbeziehung von Daten aus dem Genom oder gar dem Biom, also jenen Mikroorganismen, die mit uns in Symbiose leben und deren Anzahl etwa der Anzahl der Zellen im menschlichen Körper entspricht. Denn das Biom scheint auch bei vielen Erkrankungen eine entscheidende Rolle zu spielen. Hier macht die Forschung große Fortschritte und hier wäre es denkbar, dass die KI, wenn sie zahlreiche Datenquellen zur Verfügung hat, Korrelationen findet, die noch oder kaum bekannt sind. Auch kann man KI einsetzen um in solchen multimodalen Daten nach seltenen Erkrankungen zu suchen.

VDI: Kennen Sie ein Beispiel?

Philipp Hagen VDI/VDE-IT: Es gab eine Studie von einem Team belgischer Wissenschaftler. Die haben an einer seltenen und sehr gefährliche Herzerkrankung geforscht und nach bestimmten Auffälligkeiten in Patientendaten gesucht. Interessanterweise ist diese Erkrankung auch mit dem Karpaltunnelsyndrom korreliert, also einer Erkrankung im Handgelenk, die man zunächst nicht mit dem Herz in Verbindung bringt. Durch die KI-unterstütze Suche konnten sie eine ganze Menge Fälle erkennen, die noch nicht bekannt waren und diesen Menschen helfen. Denn  leider wird die Krankheit oft erst sehr spät erkannt und kann dann schnell tödlich enden. Früh diagnostiziert sind die Behandlungsmöglichkeiten hingegen deutlich besser. 

Solche und weitere Korrelationen könnte eine KI in multimodalen Datensätzen erkennen. Auch ist eine Auswertung anderer Daten beispielsweise aus sogenannten Wearables wie z.B. Smart Watches denkbar und sinnvoll. Denn eine Pulsuhr ist zwar eine Freizeit-Applikation und sicher nicht so genau, wie beispielsweise ein Langzeit-EKG aber dafür gewinne ich nicht nur sehr genaue Daten für 24 Stunden sondern sammle Erkenntnisse über die letzten Monate oder Jahre. 

Wir haben also eine Zukunftsvision, in der wir KI-Systeme prinzipiell mit ganz verschiedenen Datenquellen füttern könnten. Damit kommen wir hoffentlich zu einer höheren Genauigkeit bei der Diagnose, erreichen also eine höhere Spezifität und höhere Sensitivität.

VDI: Das ermöglicht auch eine größere Individualisierung der Medizin.

Philipp Hagen VDI/VDE-IT: Genau. Denn zurzeit handeln wir in der Medizin in vielen Bereichen noch nach dem Motto „One Size fits all“. Also wir sagen quasi „im Durchschnitt tragen die Menschen Schuhgröße 40, also bekommt jeder Schuhgröße 40“. Dabei passt Schuhgröße 40 nur den wenigsten richtig gut. Natürlich haben wir eine sehr gute Medizin und bewährte Behandlungen, aber wir nutzen das Potenzial zur Individualisierung noch zu wenig. Hier könnte KI mit digitalen Methoden die Angebote noch verfeinern. Eine Art Fine Tuning, um die Behandlungsergebnisse zu verbessern. Man könnte dabei z. B. auch die Biorhythmen des Individuums bei der Behandlung stärker berücksichtigen.

VDI: Was sind denn die Schwierigkeiten oder woran scheitert oder was bräuchten wir vielleicht mehr, um das auch in den klinischen Alltag implementieren zu können?

Philipp Hagen VDI/VDE-IT: Ein wesentlicher Punkt ist, dass die Systeme bisher oft in einem sehr beschränkten Studienkontext getestet und trainiert werden. Das sorgt für eine hohe Fehleranfälligkeit, denn andere Kliniken nutzen andere Geräte, die sie anders einstellen oder deren Qualität eine andere ist. So haben wir im Alltag oft das Problem, dass die hohe Trefferquote oder Qualität aus den Studien nicht erreicht werden können. Darum müsste in den Studien mehr darauf geachtet werden, dass sie multizentrisch durchführt und randomisiert werden.

Neben den technischen Problemen gibt es auch zahlreiche ethische und rechtliche Probleme. Denn die Entscheidung für eine Behandlung muss immer beim Arzt und seinem Patienten liegen. Aber wie wird ein Arzt dann entscheiden? Das Vertrauen in die KI-Diagnose ist bei uns noch nicht besonders hoch. Im Alltag verlassen wir uns hingegen oft auf KI. Wir nutzen die Wegfindung von Google und kommen zuverlässig an. Es ist vermutlich auch eine Frage der Gewöhnung. Auf jeden Fall sollten wir die Möglichkeiten der KI-Unterstützung für die Abläufe in der Gesundheitsversorgung weiter erforschen und zukünftig stärker nutzen. Denn so schaffen wir für das medizinische Personal an anderer Stelle wieder mehr Freiräume, die diesen dann für andere Patienten zur Verfügung stehen.

VDI: Das klingt gut.

Philipp Hagen VDI/VDE-IT: Derzeit verbringen Ärztinnen und Ärzte und das Pflegepersonal fast die Hälfte ihrer Zeit mit der Dokumentation und Organisation statt mit den Patienten. Was wäre, wenn beispielsweise das ganze Gespräch zwischen Arzt und Patient automatisch von der KI erfasst wird und diese nicht nur das Protokoll erstellt, sondern auch die Werte des Patienten berücksichtig und erste Vorschläge für das weitere Vorgehen macht? Die Ärzte hätten wieder mehr Kapazität für ihre eigentliche Arbeit, die Arbeit am Menschen, statt für digitalen Papierkram. 

Im OP sind wir auch heute schon hochtechnisiert, auch hier könnte die KI eine Analyse des OP-Verlaufs vornehmen und die den OP-Berichten vorbereiten. Die Integration von KI in Krankenhaus-Informationssysteme wird in den nächsten Jahren eine immer größere Rolle spielen. Sie können für eine große Entlastung im Gesundheitswesen sorgen, indem sie organisatorische Abläufe vor Ort übernehmen und effizienter gestalten. Von der Betten- und Personalplanung bis hin zur Organisation des Rettungsdiensten in Verbindung mit der Notaufnahme. 

VDI: Gibt es Risiken, die dieser Vision entgegenstehen?

Philipp Hagen VDI/VDE-IT: Natürlich brauchen wir einen qualifizierten Umgang mit der KI, wir können uns gerade in so einem sensiblen Bereich nicht blind auf die Technik verlassen. Dazu muss gut beschult werden und wir müssen ein besseres Verständnis dafür bekommen, auf welcher Grundlage die KI ihre Entscheidungen trifft. Dazu werden heutzutage beispielsweise oftmals Heatmaps genutzt, die eine gewisse Gewichtung angeben, mit der die KI-Daten in die Bewertung eingingen. Was aber in der Regel noch fehlt sind KI-Systeme die Ihre Empfehlung im Gespräch mit dem Menschen im medizinischen Kontext nachvollziehbar erklären können. Hier gibt es noch großen Forschungsbedarf.

Daneben gibt es noch viele weitere Herausforderungen, die es zu meistern gilt, wie beispielsweise mangelnde Datenverfügbarkeit oder rechtliche Fragen rund um das Thema weiterlernende KI. Aber auch ethische Fragestellungen spielen eine große Rolle. Will man beispielsweise, dass eine KI die eigenen Daten allumfassend analysiert und dann über alle möglichen Gesundheitsrisiken informiert? Solche und ähnliche Fragestellungen müssen ebenfalls mitgedacht werden, wenn KI-Innovation im Gesundheitsbereich eingesetzt werden sollen.

Zur Person

„Dr. Philipp Hagen promovierte 2014 in Physik an der Uni Bonn. Nach einer anschließenden Forschungstätigkeit im Bereich der Augenheilkunde ist er seit 2019 als wissenschaftlicher Berater bei der VDI/VDE Innovation + Technik GmbH tätig und arbeitet dort in der Forschungsförderung für Gesundheitstechnologien.“

Interview: Gudrun Huneke

Fachlicher Ansprechpartner im VDI:
Dipl.-Ing. Simon Jäckel
VDI-Gesellschaft Technologies of Life Sciences
Tel.: +49 211 6214-535
E-Mail: tls@vdi.de

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