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Weltklima

Kippelemente – Kipppunkte: ein Überblick

Bild: AscentXmedia via Getty Images

Kippelemente stellen Großrisiken im klimatischen System der Erde dar. Doch was könnte wo kippen und wie wirkt es sich aus? Wie unterscheiden sich Kippelemente und Kipppunkte?

Mit diesem Artikel geben wir einen ersten Überblick über das Erdklima-System, Kippelemente als seine kritisch-veränderbaren Bestandteile sowie Kipppunkte, mit denen sich das System unumkehrbar zu verändern droht. In darauffolgenden Beiträgen geht es um die einzelnen Kippelemente im Detail, wir erklären mögliche Kaskadeneffekte und werfen einen Blick auf die damit verbundenen Herausforderungen an die Klima- und Sicherheitspolitik von heute und morgen.

Einflussfaktoren im Erdklima-System

Das Erdklima-System umfasst die Klimaelemente der Atmosphäre, wie unter anderem Temperatur, Luftdruck, Wind oder Strahlung, sowie ihre Relationen zu den einzelnen Subsystemen: Hydrosphäre (Wasser), Kryosphäre (Eis), Pedosphäre (Boden) und Biosphäre (Bereich, in dem Lebewesen existieren). Um Vorhersagen zum Umfang und den möglichen Folgen des Klimawandels treffen zu können, ist das Verständnis darüber unabdingbar, wie das sensible und hochkomplexe Erd-Klimasystem interagiert. 

In der Klimaforschung werden seit den frühen 2000er Jahren sogenannte Kippelemente (englisch: Tipping Elements) definiert, wie beispielsweise der Amazonas Regenwald oder das arktische Eis als kritische Bestandteile des Erdklima-Systems. Hinter jedem Kippelement steckt ein anderer Mechanismus, der es zum Kippen bringen kann. Alle Kippelemente haben gemeinsam, dass es Folgen für das gesamte Erdklima-System hat, wenn sich ihr Zustand verändert. 

Der Zeitpunkt, an dem eine weitere, kleine Einzel-Veränderung zu einer unumkehrbaren und oft plötzlich einsetzenden Veränderung des gesamten Systems führt, wird als Kipppunkt (englisch: Tipping Point) bezeichnet. 

Mit zunehmender Erderwärmung nimmt die Wahrscheinlichkeit abrupter und irreversibler Veränderungen zu. Diese wiederum ziehen selbst eine zusätzliche, signifikante Erderwärmung nach sich – ein Teufelskreis, der schon in naher Zukunft spürbar sein wird, auch wenn für die meisten Kippelemente längere Zeiträume vermutet werden.

Das Kipprisiko ist selbst dann erhöht, sollte sich die globale Temperatur längerfristig auf die im Pariser Klimaabkommen festgelegten 1,5 bis maximal 2 Grad Celsius stabilisieren. Bei Überschreiten der angestrebten Erderwärmungsbegrenzung, und sei sie auch nur vorübergehend, steigt das Kipprisiko für mehrere Elemente des Erdklima-Systems um mehr als 70 Prozent. Zu diesem Ergebnis kommt eine Risikoanalyse aus dem Jahr 2022, die ein internationales Team von Forschenden von der Universität Exeter, dem Stockholm Resilience Center, Future Earth, und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung durchgeführt hat. 

Die 16 Kippelemente im Überblick

Laut aktuellem Forschungsstand werden neun Kern-Kippelemente definiert, die relevant dazu beitragen, dass das Erdklima-System funktioniert. Des Weiteren sieben regionale Kippelemente, die zum menschlichen Wohlergehen beitragen oder als einzigartiges Merkmal des Erdsystems von großem Wert sind. Die borealen Permafrostböden gelten gleichermaßen als Kern- und regionales Kippelement. Sie sind als kritische Bestandteile des Erdklima-Systems gleich an zwei Stellen der nördlichen Hemisphäre lokalisiert: in den Kältesteppen und borealen Waldgebieten von Nordamerika, aber vor allem in denen Eurasiens. 

      Die Kern-Kippelemente:

      1. Grönland-Eisschild
      2. Arktisches Wintermeereis
      3. Boreale Permafrostböden (Eurasien)
      4. Westantarktischer Eisschild
      5. Ostantarktischer Eispanzer
      6. Subglaziale Einzugsgebiete der Ostantarktis
      7. Umwälzzirkulation des Atlantiks
      8. Umwälzung im Labrador- und Irminger-Meer (Nordatlantik)
      9. Amazonas Regenwald

      Dazu kommen regionale Kippelemente:

      1. Barents Meereis
      2. Boreale Permafrostböden (Nordamerika)
      3. Gebirgsgletscher
      4. Nordische Nadelwälder in Eurasien
      5. Nordische Nadelwälder in Nordamerika
      6. Korallenriffe in niedrigen Breiten
      7. Vegetation im Sahel und westafrikanischer Monsun

      Hochrisiko-Kippelemente – hier ist der Kipppunkt in Sicht

      Kippelemente, die schon betroffen sind, wenn sich die Erde um 1,5 Grad Celsius erwärmt, gelten als Hochrisiko-Kippelemente mit möglichen Kipppunkten sogar noch vor dem Jahr 2100. Die Folgen sind weitreichend:

      • Das Abschmelzen des Meereises an den Polen zieht die Eis-Albedo-Rückkopplung nach sich: Sonnenstrahlen werden momentan noch von Eis und Schnee zurück ins All reflektiert. Schmilzt das Eis, kann der freigelegte, dunklere Boden die Strahlung nicht mehr reflektieren, und die Erde heizt sich weiter auf.
      • Dürren, Abholzen und Brände der Urwälder im Amazonasgebiet und den borealen Waldgebieten in Kanada und Sibirien führen dazu, dass mehr CO2 abgegeben als gebunden wird. 
      • Die CO2-Aufnahme des Meeres nimmt ab. Durch steigende Temperaturen wachsen weniger Algen, was sich negativ auf den Sauerstoffgehalt der Meere auswirkt.
      • Der Golfstrom verlangsamt sich durch den steigenden Süßwassergehalt als Folge des abschmelzenden Grönland-Eisschilds: Weniger warmes Wasser gelangt entlang der Meeresoberfläche von Süden nach Norden.

      Schlüsselrisiken lassen Kipppunkte näher rücken

      Schlüsselrisiken lassen Kipppunkte näher rücken

      Vom Artensterben über Wassermangel bis zu den Gefahren von Weltraumschrott – zahlreiche Schlüsselrisiken bedrohen die Erde und lassen damit Kipppunkte näher rücken. Mit Erreichen eines oder sogar mehrerer Kipppunkte steigt das Risiko katastrophaler Folgen für das Erdklima-System erheblich an. 

      In der Neuausgabe ihres Berichts zu den „Interconnected Desaster Risks“ aus dem Jahr 2023 benennt das Institut für Umwelt und menschliche Sicherheit der Universität der Vereinten Nationen, kurz UNU-EHS, folgende Risiko-Kipppunkte:

      • Das Artensterben eskaliert: Tier- und Pflanzenarten sterben 100 mal schneller aus, als beim natürlichen Aussterben im Rahmen der Evolution.
      • Grundwasser versiegt
      • Berg-Gletscher schmelzen
      • Die Hitze wird unerträglich.
      • Weltraumschrott gefährdet intakte Satelliten, die lebenswichtige Informationen für das Wettermonitoring, für Katastrophenfrühwarnsysteme und die Kommunikation sammeln und verbreiten. 
      • Eine Versicherbarkeit ist nicht mehr gegeben: Seit den 1970er Jahren haben sich die Schäden, hervorgerufen durch Extremwetter, versiebenfacht – ein riesiger, auch wirtschaftlicher Schaden.

      Zur Forschungsgeschichte

      Die Klimaforschung diskutiert seit den frühen 2000er-Jahren über Kipppunkte im Erdsystem. Schon damals definieren Forschende entsprechende Punkte, darunter das Abschmelzen der Eisschilde am Nord- und Südpol, das Abholzen des Amazonas-Regenwalds oder das Erlahmen der thermohalinen Zirkulation - einer Kombination von Meeresströmen, die die Ozeane miteinander verbindet und sich schließlich zu einem globalen Kreislauf vereint.

      Das Konzept der Kippelemente wird vom deutschen Klimaforscher Joachim Schellnhuber, langjähriges Mitglied im Weltklimarat (IPCC), in die Klima-Forschungsgemeinschaft eingebracht. Er weist als erster darauf hin, dass unbedingt auch diskontinuierliche, irreversible und extreme Ereignisse im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung zu berücksichtigen sind. Bis dahin geht die Wissenschaft vorwiegend von linearen und allmählichen Veränderungen aus. 

      Der IPCC, als Institution der Vereinten Nationen, veröffentlicht seit 1990 in unregelmäßigen Abständen Sachstandsberichte zum Klimawandel. Als der aktuelle, 6. Sachstandsbericht im März 2023 vorgestellt wird, warnt UN-Generalsekretär António Guterres: „Die Klima-Zeitbombe tickt. Aber der heutige IPCC-Bericht ist ein Leitfaden zur Entschärfung der Klima-Zeitbombe. Er ist ein Überlebensleitfaden für die Menschheit.“

      Autorin:
      Alice Quack

      Ansprechpersonen:
      Dipl.-Geogr. Catharina Fröhling
      Koordinatorin des Fokusthemas „Herausforderung – Anpassung an den Klimawandel“
      E-Mail: klimaanpassung@vdi.de

      Dr. Jochen Theloke
      Koordinator des Fokusthemas „Energie und Umwelt: das 1,5 Grad-Ziel“
      E-Mail: theloke@vdi.de

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