Chemie, Klimaschutz und nachhaltige Wirtschaft
Chemie, Klimaschutz und nachhaltige Wirtschaft sind kein Widerspruch, sondern sich gegenseitig bedingende Impulsgeber. Der VDI bietet zahlreiche fachlich fundierte Informationsquellen dazu.
Viele Unternehmen haben ehrgeizige Klimaziele formuliert und viele Millionen Euro in die Entwicklung neuer Technologien und die Umstellung auf klimaschonende Produktionsverfahren investiert. Trotzdem reichen die Anstrengungen nicht aus, um das 1,5-Grad-Klimaziel zu erreichen. Im Jahr 2020 war die Chemieindustrie immer noch für 5,5 % des Treibhausgasausstoßes in Deutschland verantwortlich. Das Ziel, bis 2045 klimaneutral zu werden, kann also nur zusammen mit der chemischen Industrie gelingen.
Breite Rohstoffbasis
Der Wunsch, die Rohstoffbasis der Chemie möglichst breit aufzustellen, einen optimalen und im besten Fall flexiblen Mix aus fossilen, regenerativen und anorganischen Rohstoffen zu finden, ist fast so alt wie die chemische Industrie an sich. Vielleicht ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt, dieses Ziel umzusetzen, weil wir die Technologien dazu schon in der Hand haben: Alternative Rohstoffe wie Biomasse, CO2, grüner Wasserstoff sowie recycelte Wertstoffe können Erdöl komplett ersetzen.
Viele organische Grundchemikalien wie Olefine, Aromaten, Methanol, aber auch anorganische Grundchemikalien wie Ammoniak, werden nach wie vor aus klimarelevantem Erdöl oder Erdgas gewonnen. Hier liegt ein wichtiger Hebel, um die dabei entstehenden Emissionen durch den Einsatz alternativer Rohstoffe nachhaltig zu senken.
Nicht alles, aber vieles ist möglich: Sogenannte Plattformchemikalien sind aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellte Grundchemikalien, die sich als Synthesebausteine für zahlreiche weitere Chemikalien eignen. Wichtige Beispiele für Plattformchemikalien sind z.B. Ethanol, Glycerin, Glucose, Furfural und Aceton. Sie werden zu höherwertigen Chemikalien und Endprodukten weiterverarbeitet und sind eine Zwischenstufe bei der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe.
Als solche sind sie eng mit dem Konzept der Bioraffinerie und der grünen Chemie verknüpft. Bereits 2016 hat der VDI die Richtlinie VDI 6310 Blatt 1 publiziert, die Bioraffineriekonzepte klassifiziert und eine standardisierte Basis zur Charakterisierung von Bioraffinerien hinsichtlich technischer, ökologischer, ökonomischer und sozialer Kriterien formuliert.
Kreislaufwirtschaft ist schon lange in aller Munde – jetzt ist es an der Zeit, diese in die breite Anwendung zu bringen. Es kann nicht sein, dass angesichts zunehmenden Rohstoff- und Energiemangels wertvolle und mit hohem Energieaufwand produzierte Materialen nicht wiederverwendet werden. Die technischen Möglichkeiten sind größtenteils vorhanden, aber die politisch-ökonomischen Randbedingungen müssen geschaffen werden, wie das Green Paper „Circular Economy für Kunststoffe neu denken – Wie die Transformation zur zirkulären Wertschöpfung gelingen kann“ des VDI Round Table am Beispiel der Kunststoffe verdeutlicht.
Regenerative Energien
Regenerative Energien werden inzwischen mit zunehmend höherem Wirkungsgrad erzeugt. Die wenigsten Fachleute hätten vor 20 Jahren geglaubt, dass ein regenerativer Energiemix von aktuell 50 % in Deutschland möglich sein könnte. Hier sind wir unseren Nachbarländern – Frankreich liegt z.B. bei ca. 20 % – viele Schritte voraus, aber es geht noch mehr und die Chemie leistet dazu wichtige Beiträge.
Für die chemische Industrie ist die Defossilisierung eine große Herausforderung, die mit einem großen Bedarf an Energie - insbesondere erneuerbarem Strom - einhergeht. Trotzdem hat gerade die Chemie als energieintensive Industrie das Potenzial, einen besonders hohen Beitrag zu leisten. Initiativen, wie z. B. die Plattform Chemistry4Climate von VCI und VDI, bringen Fachleute unterschiedlichster Branchen und Forschungsdisziplinen zusammen, um die Transformation zur Klimaneutralität der Chemie zu realisieren. Derzeit werden gemeinsam C4C-Thesenpapiere zur „Kreislaufwirtschaft und Rohstoffversorgung der Zukunft“ sowie zur „Energieversorgung und Infrastruktur der Zukunft“ erarbeitet – begleitet von Expertinnen und Experten der Regulatorik. Denn eines ist klar: Die Energiewende ist ein Zusammenspiel aller Kräfte, bei der der Politik eine zentrale Rolle zukommt.
Und auch der Einzelhaushalt ist nicht zu vernachlässigen. Vielleicht liegt die (energetische) Zukunft auch in einem verstärkt autonomen Einzelhaushalt, in der eine flächendeckende hocheffiziente Solar- und/oder Geothermie kombiniert mit Wärmepumpen und optimierten Speichermedien einen Großteil der benötigten privaten (Wärme-)Energie erzeugt, speichert oder auch einspeist. Aber auch dieser autonome Ansatz muss gesellschaftlich und politisch gewollt und ggf. gefördert sein.
Nachhaltige Produkte
Nicht zu vergessen sind die Produkte der chemischen Industrie, die eine zentrale Bedeutung für die Energiewende haben und die Basis für die Effizienzsteigerungen im regenerativen Energiesektor sind. Langfaserverstärkte Thermoplaste für hochbelastete Strukturbauteile oder gewebte Rovings für Rotorblätter von Windenergieanlagen sowie Perowskit/Organik-Tandemzellen als Solarzellen der nächsten Generation sind nur wenige plakative Beispiele für die Hightech-Materialien der chemischen Industrie.
Eine offene Wunde ist und bleibt das Speicher- und Transportproblem. Hier muss sich die Chemie an die eigene Nase fassen und die schmerzlichen Lehren daraus ziehen, dass die Forschung zur Elektrochemie und damit die Batterieforschung jahrzehntelang vernachlässigt wurde. Ausgeforscht hieß es damals – welch nachlässiger Trugschluss. So bedrohlich der akute Gas- und Energiemangel sowohl für die Industrie als auch für die vielen Einzelverbraucher ist, so birgt jede krisenbedingte Mangelsituation immer auch ein hohes Innovationspotenzial und eine Rückbesinnung auf wichtiges Know-how – auch der Thermodynamik, denn ohne Berücksichtigung ihres ersten Hauptsatzes klappt die Energiewende nicht!
Biökonomie: Vom Nischenthema zum politischen Mainstream
In den letzten Jahren hat sich das Konzept der Bioökonomie weltweit von einem Nischenthema zum politischen Mainstream entwickelt. Zahlreiche Länder haben Bioökonomiestrategien veröffentlicht. Die EU-Kommission hebt hervor, dass die Bioökonomie ein Schlüssel für eine klimaneutrale Wirtschaft ist und zu allen Dimensionen und Zielen des „European Green Deal“ beitragen kann.
Das Konzept der Bioökonomie ist in zahlreichen wirtschaftlichen Sektoren und Branchen relevant, von Automobil über Bau und Chemie bis hin zur Textilindustrie. Die Bioökonomie bietet Chancen für nachhaltige Innovationen, die durch technologische Fortschritte in der Biotechnologie und den benachbarten Bereichen ermöglicht werden. Der Bioökonomierat der Bundesregierung, dessen Geschäftsstelle das VDI Technologiezentrum seit Juni 2021 im Auftrag des BMBF führt, verweist hier auf die Verknüpfung neuer biologischer Verfahren und Erkenntnisse mit Entwicklungen in der Agrarwissenschaft und der Informations-, Medizin- oder Fertigungstechnik. Ganz entscheidend werden Innovationen in der Landwirtschaft sein, die eine ressourceneffiziente, ökologische Produktion sicherstellen muss. Ingenieurexpertise ist in allen Bereichen gefragt, nicht zuletzt bei der Übertragung der vielen Prozesse, die sich bereits im Pilotmaßstab bewährt haben, in die industrielle Produktion (Scale-up).
Ein Wandel des heutigen Wirtschaftssystems zu einer Ökonomie, die in Wertstoffkreisläufen und mit erneuerbaren Energien und nachwachsenden Rohstoffen agiert, ist langfristig notwendig. Die Bioökonomie soll eine am natürlichen Stoffkreislauf orientierte, nachhaltige und biobasierte Wirtschaft sein, deren Angebot die Welt ausreichend und gesund ernährt und die Menschen mit hochwertigen Produkten aus nachwachsenden Rohstoffen versorgt. Das ist die Zielvision für einen solchen Wandel, der mit vielen Chancen für die Ingenieurbranchen verbunden ist, unter anderem durch die Entwicklung und den Export innovativer nachhaltiger Technologien. Die Bioökonomie ist dabei nicht nur ein zentraler Stützpfeiler in den Transformationsprozessen der Chemie, sondern kann sich zum Rettungsanker entwickeln, der Klimaschutz und nachhaltige Produktion optimal vereint.
Aktivitäten im VDI
Der VDI unterstützt die Transformationsprozesse der Chemie- und der Energiebranche sowie die Entwicklung einer nachhaltigen Bioökonomie durch zahlreiche Aktivitäten in seinen 12 VDI-Fachgesellschaften sowie den VDI-Töchtern VDI Technologiezentrum, VDI Zentrum Ressourceneffizienz und VDI/VDE Innovation + Technik. Gemeinsames Anliegen ist es, den technologischen Fortschritt zu unterstützen und mit Innovationen die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern – im Einklang mit Natur und Umwelt.
Autorin: Ljuba Woppowa, Geschäftsführerin der VDI-Gesellschaft Verfahrenstechnik und Chemieingenieurwesen
Aus: CITplus 10/2022